Liebe Abiturientinnen und Abiturienten des Jahrgang 2020!

Ich begrüße Sie heute ganz herzlich zur kleinen Feier anlässlich der Verleihung Ihrer Abiturzeugnisse!
Auch wenn wir die Abiturentlassung nicht, wie sonst üblich, mit Angehörigen und Freunden zusammen begehen können, bin ich trotzdem froh und erleichtert, dass wir Sie mit Ihrem ganzen Jahrgang in dieser Aula gebührend verabschieden können. Sie wissen, das war nicht von vorneherein so klar!

Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, wenn Sie hier sitzen, dann waren Sie in der Regel drei Jahre lang Schülerin oder Schüler dieser Schule. Sie haben hier viel Zeit zusammen verbracht, Sie haben hier miteinander gearbeitet und zusammen gelernt.

Fast drei Jahre lang … und dann kam Corona! 13.03.2020!

Die Folge war eine Schulschließung – zwei Wochen bevor das offizielle Ende des 4. Semesters erreicht war.
Zu dem Zeitpunkt hätte ich gerne in Ihre Köpfe geschaut! Ihre Gedanken gingen wahrscheinlich von „Jawohl! Ferien! Freiheit, ich komme!“ bis hin zu „Aber wir waren doch noch gar fertig, nicht mit den Vorbereitungen für das Abitur, nicht mit dem voneinander Verabschieden, nicht mit dem zusammen feiern!“
Plötzlich hieß es nicht mehr gemeinsam lernen, gemeinsam arbeiten, sondern jeder allein für sich, mit den digitalen oder analogen Medien, die zuhause verfügbar waren. Kontakte mit den anderen und mit den Lehrkräften waren nur noch auf digitalem Wege oder per Telefon möglich!
Was hat das mit Ihnen gemacht? Gab es Sie noch als Abi-Jahrgang? Fühlten Sie sich noch wie eine Gruppe? Ich kann mir vorstellen, dass die Zugehörigkeit und damit die gegenseitige Unterstützung immens unter dem verordneten Sozial Distancing gelitten hat. Den Bio-Kurs von Herrn Läufer, den Geschichtskurs von Frau Ruthemann oder den Mathekurs von Herrn Brill, auch den Abiturjahrgang gab es plötzlich irgendwie nur noch virtuell.

Sie mussten nun selbst die Energie und die Disziplin aufbringen, sich zu organisieren und zu lernen. Hinzu kamen bei dem einen oder anderen die Sorgen um Angehörige und Freunde oder um die eigene Person.
Unsicherheiten bestimmten den sonst so exakt durchgeplanten Terminplan rund um das Abitur. Herr Läufer / Frau Freye hatte Ihnen den Plan doch gefühlt bereits zwei Jahren vorher mitgeteilt! Der stand fest!
Da gab es – vor Corona – nichts dran zu rütteln!
Verzicht wurde spürbar. Die sozialen Kontakte im Kolleg, die Sie vielleicht durch die Schulzeit getragen haben. Sie gab es nicht mehr so richtig. Und die Highlights, auf die Sie sich vielleicht bereits lange vorher gefreut haben: Motto-Woche, Abi-Streich und Abi-Party wurden gestrichen – nein, verboten!
Das eine oder andere letzte Kurstreffen oder das nette Ausklingen des Unterrichts mit der Lerngruppe und den Lehrern, auch das musste entfallen!
Das alles ist sehr bedauerlich! Aber Sie sitzen trotzdem jetzt hier! Und haben Ihr Abitur unter diesen widrigen Umständen gemacht! Sie haben die Unsicherheiten, die Sorgen und die Hindernisse gemeistert, Sie haben die Prüfungen abgelegt und bestanden! Sie sind bereit, das Abiturzeugnis in Empfang zu nehmen.

Aber ich möchte die letzten drei Jahre nicht nur auf die letzten Wochen reduzieren! Darum möchte ich Ihre Geduld noch etwas strapazieren und noch einmal etwas ausholen!

Vielleicht haben Sie ja in der letzten Zeit, nach dem Stress der Abiturprüfungen, auch schon etwas Muße gehabt, an die Anfänge Ihrer Schulzeit am Kolleg/Abendgymnasium zurückzudenken. An die Zeit, in der Sie hier neu waren, in der Sie die Schule, die Lehrkräfte und Ihre Mitschüler*innen kennengelernt haben. Nach langer Zeit wieder die Schulbank gedrückt haben! Wenn Sie daran zurückdenken, vielleicht merken Sie dabei, dass sich in den letzten drei Jahren doch so einiges verändert hat. Ich kann mir kaum vorstellen, dass das anders ist!

Äußerlich sind Ihnen die drei Jahre kaum anzusehen, Sie sind ja noch jung! Aber gibt es da nicht „innere“ Veränderungen? Nicht nur, dass Sie viel neues Wissen aufgenommen haben – quasi „in sich hineingepaukt“ haben, und nun, je nach Fächerwahl, eine Gedichtinterpretation, eine Textanalyse, eine kritische Quellenanalyse, eine mathematische Funktionsuntersuchung usw. durchführen können. Sie haben darüber hinaus auch – und davon bin ich überzeugt – eine andere Sichtweise auf die Welt bekommen. Neu erlangtes Wissen, neue geistige Horizonte … das verändert die Sicht auf die Welt, das verändert das Verständnis der Welt.
Die drei Jahre Schulzeit haben Sie verändert! Auch wenn sich einige von Ihnen das eine oder andere Mal dagegen gewehrt haben. Ihre kognitiven Fähigkeiten sind erweitert worden und Sie nehmen ihre Umwelt auf eine andere Art und Weise wahr.

Hat sich dadurch, dass Sie Ihren Horizont verändert haben, vielleicht auch die Welt selbst etwas verändert? Oder sind Sie gar mit dieser Schulzeit ein Weltenveränderer geworden?
JA … und NEIN!

JA, weil das, was Sie über Ihre Sinne wahrnehmen, Ihre Welt ist. Sie können die Welt nur über Ihre Sinne wahrnehmen und mit Ihrem Gehirn verarbeiten. Anders geht’s nicht. Da Ihr Datenverarbeitungsmaschine optimiert wurde, diese also „gepimpt“ wurde, ist die Welt für Sie eine andere. Sie können nun neue Inhalte aufnehmen, Argumente differenzierter betrachten. Sie können unterschiedliche Standpunkte einnehmen und miteinander vergleichen. Sie können durch inhaltlichen Transfer, durch Analyse und bewusster Interpretation, hinter die eine oder andere Fassade der Weltbühne blicken.

Aber auch NEIN, weil sich die äußere Welt durch Ihren geänderten Blickwinkel erst einmal objektiv nicht geändert hat, … zumindest solange Sie sich noch genauso verhalten wie zuvor! Also: Auf veränderte Handlungsmuster kommt es an. Naja, vielleicht haben Sie an der einen oder anderen Stelle bereits unbewusst Ihre Handlungsmuster geändert! Das ist gar nicht so abwegig! Fragen Sie vielleicht mal Ihre Angehörigen, Ihre Vertrauten und guten Freunde! Sie werden wahrscheinlich erstaunt sein, was Sie als Antwort bekommen.

In der Vorbereitung auf den heutigen Tag, ging mir der Satz von unserem Bundespräsidenten durch den Kopf. Vielleicht erinnern Sie sich an ihn. Er stammt aus seiner kurzen Rede, die Herr Steinmeier im Rahmen der Einführung der von der Bundesregierung beschlossenen, sehr drastischen Einschränkungen gehalten hat. Der Satz wurde oft zitiert:

„Die Welt danach wird eine andere sein. In welcher Welt, in welcher Gesellschaft wir leben werden, hängt von uns ab.“ (Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 16.03.2020)

Beide Sätze für sich genommen sind erst einmal recht einfache, für sich abgeschlossene Aussagen, etwas pauschal und plakativ formuliert, denen wahrscheinlich jeder von uns sofort zustimmen kann.

„Die Welt danach wird eine andere sein.“
Ja klar, die Welt verändert sich ständig. Mal schnell, mal weniger schnell: Beschleuniger sind neue Techniken (PC, Internet, Smartphones …), neue Trends, politische und wirtschaftliche Veränderungen.

Sind wir also Veränderungsjunkies? Nehmen wir es leicht mit Veränderungen? Ich glaube das nicht! Denken Sie nur daran, wie viele „feste“ Neujahresvorsätze Sie selbst schon nach kurzer Zeit gebrochen haben und wie schnell Sie trotz festem Entschluss und rationaler Notwendigkeit in die Routinen des Vorjahres zurückkehren.

Die Pandemie hat das Leben in Deutschland für mehrere Monate quasi von heute auf morgen umgekrempelt. Viele der Maßnahmen und der Auswirkungen waren vor der Pandemie unvorstellbar: ein fast komplettes Herunterfahren des öffentlichen Lebens, der Kultur- und Touristikindustrie, Quarantäne einer ganzen Region oder letztens eines Wohnblocks. Viele als selbstverständlich angesehene und liebgewonnene Gewohnheiten haben sich drastisch ändern müssen. Alle mussten verzichten! Auf ungewisse Zeit z. T. drastischen Verzicht üben.

Veränderungen gehören zum Leben dazu – ohne Veränderungen gibt es kein Leben, ohne Veränderung gibt es philosophisch gesehen gar keine Zeit.

Jeder geht mit Veränderungen anders um, aber solche drastischen Veränderungen haben verunsichert, haben Angst gemacht und zeigen einem die eigene Begrenztheit, Verletzlichkeit und die eigene Unzulänglichkeit.
Das, was einem in dieser modernen Zeit immer wieder und überall suggeriert wird, dass man sein Schicksal selbst in der Hand hat, erweist sich plötzlich als fragwürdig.
Daher stellt sich die Frage: Wer will denn eigentlich wirklich eine Veränderung? Soll nicht besser alles so bleiben, wie es ist?
Ist der Mensch nicht ein Gewohnheitstier? Insbesondere dann, wenn es ihm vermeintlich gut dabei geht?

Ich glaube, dass Herr Steinmeier mit den Veränderungen nicht die guten Vorsätze nach der Krise meint: weniger Autofahren, weniger weite Flugreisen, weniger Konsum, mehr Radfahren, mehr in Familienzeit investieren usw.

Ich bin überzeugt, es geht ihm um etwas Größeres, nämlich um die Regeln unsers Zusammenlebens, um unsere Gesellschaft. Gibt es Solidarität? Unterstützen wir uns gegenseitig? Achten wir auf unseren Nächsten? Zählt jedes Leben gleich viel?

„In welcher Welt, in welcher Gesellschaft wir leben werden, hängt von uns ab.“

Meiner Meinung nach sind die beiden Sätze nicht als Prognose, Weissagung oder als Beweis seiner Erleuchtung zu verstehen, sondern als Auftrag an alle Bürger. Diese Krise/Pandemie greift in Teilen unsere Existenz an. Das war zu spüren. Verlust, Krankheit, in einigen Fällen Tod, extreme Reduktion sozialer Kontakte, Das kann leider zu niedrigen, ureigensten Reaktionen der Menschen führen: Wut, Angst, Hass, Realitätsverleugnung, Isolation, Fokussierung auf Flucht oder Gegenwehr, Gewalt! Alles haben wir in der Zeit der Pandemie beobachtet!
Aber ist das die Welt, in der wir leben wollen?

„In welcher Welt, in welcher Gesellschaft wir leben werden, hängt von uns ab.“

Aber wie können wir uns gegen diese ureigensten Triebe wehren und ihnen begegnen?
Ich bin überzeugt, dass es auf die Frage nicht die eine einfache Antwort gibt, aber einen Wegweiser:
Versuche deinen Geist nicht einzuengen: Vorsicht bei pauschalisierenden Aussagen, bei Verallgemeinerungen und wenn in Dogmen gedacht wird.
Das Gegenteil ist wichtig: Öffne den Geist, höre zu, führe Gespräche, eigne dir neues Wissen an und erweitere deinen Horizont!

Offenheit, Analysefähigkeit, das Hinterfragen von Aussagen, Aussagen in einen größeren Zusammenhang einordnen, Positionswechsel üben. Das sind die eigentlichen Ziele der Lehrpläne, die hinter den Fachinhalten stehen. Das wollten und das haben Ihre Lehrkräfte Ihnen vermittelt, damit Sie achtsam und verantwortungsvoll in einer sich verändernden Gesellschaft leben und zu ihrer Entwicklung beitragen.

Mit dem Abiturzeugnis erhalten Sie damit nicht nur eine formale Zugangsberechtigung zu Fachhochschulen und Universitäten, sondern auch ein Zeugnis der „Reife“ (so sagte man früher), das als Auftrag zum Handeln zu verstehen ist.

Sie haben sich das Abitur und diesen Auftrag hart erarbeitet. Nutzen Sie Ihre erworbenen Fähigkeiten und Kompetenzen und handeln Sie im Sinne unserer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft selbstbestimmt und verantwortungsvoll.

Das würde meine Kolleginnen und Kollegen und auch mich freuen und uns stolz machen.

Zudem würde uns freuen, wenn Sie anderen von unserer Schule erzählen würden und uns weiterempfehlen, damit auch andere Erwachsene diese Einrichtung nutzen können.

Und wir würden uns selbstverständlich sehr freuen, wenn Sie uns treu bleiben. Lassen Sie sich hin und wieder blicken, erzählen Sie uns von Ihrem weiteren Lebensweg und treten Sie unserem Förderverein bei!

Also Herzlichen Glückwunsch zum bestandenen Abitur! Ich wünsche Ihnen auf dem weiteren Lebensweg alles Gute!

 

StD Udo Menski, Schulleiter